Triggerwarnung: Das folgende Essay thematisiert sexuelle Nötigungen, Übergriffe sowie Misshandlungen und deren Folgen, die für die Betroffenen belastend und retraumatisierend sein können.
Ich kann mich nicht daran erinnern, abgesehen vom Biologie-Unterricht in der Schule, jemals aufgeklärt worden zu sein. Alles, was ich als Teenie und junge Erwachsene über Sex und Beziehungen erfahren habe, kam vom Austausch mit Freunden, Filmen, Serien, Zeitschriften, Werbung und Internetpornos. Und das waren keine nützlichen Quellen, um etwas sinnvolles darüber zu lernen.
Ich habe nicht gelernt, dass es in Ordnung ist „Nein“ zu sagen. Ich habe nicht gelernt, dass ich nichts tun muss, was ich nicht möchte, weil ich niemanden meinen Körper schuldig bin. Auch nicht als Dank oder Gegenleistung. Stattdessen habe ich gelernt, dass Sex ein Mittel ist, um Anerkennung, Geborgenheit und Nähe zu bekommen. Oh, und um Männer zu befriedigen. Nicht mich selbst. Nicht so wirklich, jedenfalls.
Sich diese Dinge zu wünschen, war und ist auch heute nicht verkehrt. Wir wünschen sie uns alle, das ist menschlich. Zweifelsfrei gibt es jedoch gesündere Wege als Sex und unglückliche Beziehungen, um sich diese Sehnsüchte zu erfüllen.
Dass ich deswegen einige sehr schlechte sexuelle Erfahrungen gemacht habe, ist selbsterklärend. Die Zeit zurückdrehen und diese schlechten Erfahrungen ungeschehen machen, kann ich nicht.
Aber ich kann jetzt zur Aufklärung beitragen und vielleicht dafür Sorge tragen, dass weniger Menschen negative oder traumatische Erfahrungen machen. Und damit meine ich „Opfer“ und „Täter“ gleichermaßen. Denn die traurige Wahrheit ist, dass viele Menschen (egal ob männlich, weiblich, divers) gar nicht wissen, wann sie sexuell übergriffig sind. Genauso wenig wissen Menschen oftmals, dass sie Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sind oder in der Vergangenheit waren. Es ist ihnen schlichtweg nicht bewusst.
Über sexuelle Belästigung oder sexuellen Missbrauch zu sprechen, ist schwierig. Für mich aber kein Grund es nicht zu tun, eher im Gegenteil. Wir müssen über schwierige Themen sprechen, wie sollen wir sonst darauf aufmerksam machen, aufklären und eine Veränderung herbeiführen?
An dieser Stelle möchte ich auf den Auslöser eingehen, der mich dazu veranlasst hat, dieses Essay zu schreiben.
Vielleicht kennen einige von euch die Apple TV Serie „The Morning Show“, die erste Staffel wurde 2019 ausgestrahlt. Mit Jennifer Aniston, Reese Witherspoon und Steve Carell, ein grandioser Cast.
SPOILER ALERT: Ich werde auf den Inhalt einer spezielle Szene eingehen
In der Serie geht es unter anderen um den Starmoderator der “Morning Show”, Mitch Kessler, der wegen sexuellen Missbrauchsvorwürfen aus dem Netzwerk geschmissen wird. Der Rauswurf zieht einen enormen Kollateralschaden nach sich, aber darum soll es gar nicht gehen. Ich möchte über das sprechen, was in Folge 8 passiert.
Bis dahin gab es keine Szene in der Staffel, die mich aus der Haut hat fahren lassen. Obwohl es sich um so ein sensibles und schwerwiegendes Thema handelt, war bis dahin alles auszuhalten.
Zu Beginn der Folge wurde eine Triggerwarnung eingespielt. Ich wusste, es kann schwerverdauliche Szenen geben. Trotzdem war ich nicht auf das gefasst, was letztendlich gezeigt wurde. Das lag nicht daran, dass die Szene besonders gewaltsam war, damit hätte ich umgehen können. Tatsächlich war das Gegenteil der Fall. Es war erschreckend, wie wirklichkeitsnah sie war. Realistisch. Echt und authentisch. Sie hat das gezeigt, was ich selbst schon erlebt und durchgemacht habe. Mein Puls war sofort auf 180.
Die gesamte Folge ist eine Rückblende. Bis dahin war nur die Identität einer einzigen Frau bekannt, die von Mitch sexuell ausgenutzt wurde. In dieser Rückblende erfährt man, dass auch Hannah Schoenfeld Opfer sexuellen Missbrauchs durch Mitch wurde. Wichtig zu wissen ist, dass Hannah „Booker for talent“ ist und in der Unternehmenshierarchie weit unter Mitch steht. Zu dem Zeitpunkt des Geschehens war sie noch nicht lange Teil der Crew und hat zu Mitch aufgesehen, schließlich war er der Star der Show.
Die Folge erzählt von einer Schießerei in Las Vegas, über die in der Show berichtet werden soll. Hannahs Aufgabe ist es, ein Mädchen für ein Interview zu buchen, dessen Freund oder Freundin in der Schießerei umgekommen ist.
Nach der Show ist Hannah sehr niedergeschlagen und nachdenklich. Sie macht einen Spaziergang und trifft dabei auf Mitch. Beide gehen ein Stück zusammen, bis Mitch ihr anbietet, mit ihm mitzukommen. Er möchte ihr etwas zeigen, dass sie aufmuntern soll. Hannah denkt sich nichts weiter dabei und geht gemeinsam mit ihm in seine Stadtwohnung.
Die nächste Szene beginnt. Mitch zeigt Hannah einen Film, irgendein Comedy Klassiker. Da der ihn immer wieder zum Lachen bringt, geht er davon aus, dass Hannah der Film auch gefallen wird. Allerdings bemerkt er irgendwann, dass sie weint und stoppt den Film.
Hannah entschuldigt sich und möchte gehen, in ihrer Verfassung sei sie keine gute Gesellschaft. Es geht ihr sichtlich schlecht. Beide stehen auf, um sich zu verabschieden. Mitch nimmt Hannah in den Arm.
Sie versteht die Umarmung als eine tröstende Geste, er als Vorspiel. Nach ein paar Sekunden möchte sie sich aus der Umarmung lösen, aber Mitch hält sie fest. Er flüstert ihr ins Ohr, sie rieche gut.
Die Situation wird ihr zunehmend unangenehm, aber Mitch hält sie weiterhin fest. Er fängt an ihren Hals zu küssen und raunt ihr ins Ohr, dass er sie mag. Hannah weiß nicht richtig mit der Situation umzugehen, ist überfordert und antwortet ihm, dass sie ihn auch mag, stotternd wohlgemerkt.
Und dann steckt er ihr die Hand in die Hose. Ganz unverblümt.
Darauf hin versucht Hannah ihm zu erklären, sie sei nicht deswegen gekommen und er antwortet, er wisse das, aber es sei doch eine schöne Überraschung (diese Ignoranz und Überheblichkeit seitens Mitch, macht mich besonders wütend).
Die ganze Situation ist Hannah offenkundig sehr unangenehm, aber als Narzisst, der er nun mal ist, ignoriert er diesen Umstand und äußert: „Ist schon gut. Wir wollen uns einfach wohlfühlen.“ Ein paar Sekunden später, nachdem er sie ins Schlafzimmer gezogen hat, sieht man wie er beginnt sie oral zu befriedigen.
Diese Szene zeigt ein ausgesprochen toxisches und manipulatives Verhalten. Viel schlimmer noch ist aber, dass Menschen vor dem Fernseher, Laptop oder iPad sitzen, die Szene sehen und nicht verstehen, wieso das, was dort passiert, überhaupt so falsch ist.
Sicherlich denkt sich jemand: Aber sie ist mit zu ihm nach Hause gegangen, war doch klar, dass das passiert.
Nein! Zu jemanden nach Hause zu gehen, selbst während eines Dates, ist kein Freifahrtschein für Sex. Ich weiß nicht, woher dieser Glaube kommt, dass das in Ordnung ist. Wer hat festgelegt, dass ein Mensch sexuelle Handlungen zu erwarten hat, wenn er jemanden zu sich nach Hause einlädt? Weil es ein intimer Ort ist? Weil es ein Schlafzimmer gibt? Weil ein Date, dass nicht mit Sex endet, langweilig ist? Und in dieser speziellen Situation ist diese Vorstellung sogar noch abwegiger, denn es handelt sich hier um zwei Personen, die in einem ungleichen Machtverhältnis zueinander stehen. Zumindest sollte es abwegig sein, die Realität sieht traurigerweise anders aus.
Auch in einem Swingerclub darf man nicht einfach eine Frau, einen Mann oder ein Paar anfassen und zum Sex nötigen. Selbst ein Ort, der dafür gedacht ist, sich sexuell auszutauschen, hat Regeln. Wieso sollte es überall sonst anders sein?
Er hat sich ihr gegenüber freundschaftlich verhalten, ihre Naivität und Verletzlichkeit ausgenutzt. Er war das manipulative Raubtier und sie das hilflose Beutetier. In solchen Momenten entstehen Ängste.
Wird er Gewalt anwenden, wenn ich nicht mitmache? Werde ich lebend aus dieser Situation rauskommen? Aber auch: Wird er mich feuern lassen, wenn ich nicht mitmache?
Den Job zu verlieren, ist nicht für jeden banal. Es gibt Menschen, die setzen ihre Arbeit mit ihrem gesamten Lebensinhalt gleich. Was tut der Mensch, wenn er sein Leben in Gefahr sieht? Er reagiert auf unterschiedliche Weise, um sich zu retten. Es gibt im Englischen die Begriffe Fight, Flight, Freeze und Fawn, sie spiegeln das menschliche Verhalten in Stress- und Gefahrensituationen wider (Hier könnt ihr mehr dazu lesen). Letzteres hat Hannah getan. Sie hat sich der Situation hingegeben, um schwerwiegendere Konflikte oder eine Verschlimmerung der Situation zu vermeiden.
Ein weiteres Indiz für sein Fehlverhalten: Er hat die negative emotionale Lage, in der sie sich befunden hat, übergangen. Sie hat geweint. Ich erinnere nochmal an seine Aussage: „Ist schon gut. Wir wollen uns einfach wohlfühlen.“
Ihm war bewusst, dass sie keinen Sex wollte, aber er hat es ignoriert, weil er sich gut fühlen wollte. Er hat sein Bedürfnis über ihr Wohl gestellt und seine Machtposition ausgenutzt. Wie oft habe ich selbst dieses Verhalten bei Männern erlebt? (Ich schreibe an dieser Stelle von Männern, weil ich als heterosexuelle Frau alle meine negative sexuellen Erfahrungen mit Männern gemacht habe). Es ist erschreckend, wie alltäglich diese toxische Haltungsweise ist. Daraus resultiert das nächste Dilemma.
Sie hätte doch nein sagen können!
Sie hat nein gesagt. Hannah hat verbal geäußert, dass Sex mit ihm zu haben nicht ihre Absicht ist, aber auch ihre Körpersprache in diesem Moment hat signasilisiert, dass sie es nicht möchte. Das ist nein genug.
Sie hätte deutlicher werden müssen. Ihn wegschubsen können.
Insbesondere Frauen werden oft dazu konditioniert, gehorsam zu sein. Bloß nicht zickig werden, immer nett bleiben.
Du willst doch die Männer nicht verschrecken oder provozieren. Wer will schone eine Furie zu Hause haben? Du findest doch nie einen Mann, wenn du dich so anstellst! Wenn du so verklemmt bist, brauchst du dich nicht wundern, wenn er sich eine Neue sucht!
Meiner Erfahrung nach, lernen wir nicht früh und ausdrücklich genug, klar und laut „Nein“ zu sagen. Aber unser Körper spricht für uns. Für jeden Menschen, sobald er sich in einer unangenehmen oder gefährlichen Situation befindet. Und ich möchte hier kein Mitleid erregen, für das „schwache“ Geschlecht der Frau. Aber du überlegst dir dreimal, ob du energisch wirst, wenn du dich alleine mit einem Mann in einem Raum befindest, der offensichtlich keine Grenzen kennt.
Männern wird suggeriert, je mehr Frauen sie ins Bett kriegen, desto männlicher sind sie. Ein richtiger Kerl kann jede flachlegen! Es wird nicht infrage gestellt, dass solche toxischen Glaubenssätze im schlimmsten Fall Sexualstraftäter hervorbringen.
Toxische Männlichkeit ist ein Thema für sich, aber die Art und Weise, wie Männern beigebracht wird über Sex und Frauen zu denken, spiegelt sich letztendlich in ihrem Handeln wider. Gefühlvoll mit der (Sexual-)Partnerin umzugehen, wird als Zeichen von Schwäche wahrgenommen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Vor allem ist es ist ein Zeichen von emotionaler Intelligenz.
Konsens, oder auch Einvernehmlichkeit ist ungemein wichtig. Ohne Konsens darf keine sexuelle Handlung stattfinden. Leider gibt es auch hier immer wieder Missverständnisse und Konflikte darüber, wann Konsens passiert.
Die Szene zwischen Hannah und Mitch zeigt uns, dass es noch viel zu lernen gibt und dass wir mehr tun müssen, um die Häufigkeit solcher Übergriffe zu vermeiden.
Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene müssen lernen, dass es mehr als angemessen ist „Nein“ zu sagen. Grenzen zu setzen, zu akzeptieren und zu lesen muss ein essenzieller Bestandteil unseres alltäglichen Lebens sein. Aktiv zuhören und auf Körpersignale zu achten, die eigenen und die des Gegenübers, sollte selbstverständlich sein.
Es sind Eltern und pädagogische Fachkräfte, die einen großen Teil der Verantwortung dafür tragen, die Grundlage für einen gesunden Umgang mit Sexualität und zwischenmenschlichen Beziehungen zu schaffen. Bedauerlicherweise scheitert es bereits an dieser Stelle. Eltern tun sich mit dieser Aufgabe schwer. Und der Sexualkundeunterricht an Schulen lehrt zu wenig.
Mein Kind denkt schon an Sex? Aber es ist doch erst 12 Jahre alt, das kann nicht sein.
Kinder sehen, wie Erwachsene miteinander umgehen. Sie sehen, wenn sich ihre Eltern hinter ihrem Rücken “leise” streiten. Sie sehen, wenn Affären die Familie auseinander reißen. Sie sehen, ob Zärtlichkeiten ausgetauscht werden, die nichts sexuelles innehaben. Im Zeitalter des Internets werden sie auf sozialen Netzwerken Inhalten ausgesetzt, die nicht für ihre Augen bestimmt sind. Kinder und Jugendliche sehen vorallem das, vor dem wir als Erwachsene oft die Augen verschließen. Und es prägt sie nachhaltig, meistens negativ.
Ich war wie Hannah.
Aber weil es Menschen gibt, die Plattformen wie YouTube nutzen, um aufzuklären. Weil es Menschen gibt, die sich professionell mit Sexualität und Beziehungen auseinandersetzen und ihr Wissen in angebrachter Weise online und mittels anderer Medien teilen. Weil es Menschen gibt, die mir gezeigt haben, dass es notwendig ist Grenzen zu setzen (wenn auch sehr spät in meinem Leben). Weil es Menschen gibt, die meine Grenzen respektieren und denen mein Wohlergehen am Herzen liegt. Weil es Menschen gibt, die mich nicht wegstoßen, wenn ich „Nein“ sage. Weil es Menschen gibt, die mir zeigen, dass ich als Mensch etwas wert bin, die mir klar gemacht haben, dass ich kein Objekt bin.
Weil es diese Menschen gibt, bin ich nicht mehr wie Hannah. Lasst uns diese Menschen für andere und einander sein.
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